VATER UNSER

 

„Vater unser, der du bist im Himmel"

[Mt 6,9b]

 

 

Band 1 Vorwort

 

Das von uns Christen am meisten aufgesagte Gebet ist würdig, lang meditiert zu werden. Es ist für uns nicht leicht, die Gebetsweise des Herrn anzunehmen, denn wir haben schon unsere Gewohnheiten!

Deshalb haben zu allen Zeiten Hirten, Mystiker und Kirchenlehrer, kleine und große Jünger Jesu versucht, Christen zu helfen, aus den Worten des „Vater unser« etwas von seinem Geist zu entnehmen, um sie zu einem bewußten Beten zu führen.

Versuchen wir nochmals, das „Vater unser« zu lesen, als ob wir es nie auswendig Wort für Wort gelernt hätten.

Vielleicht gewährt uns der Heilige Geist, tiefer in sein Beten, in seine Liebe zum Vater und in den Heilsauftrag Jesu für die Welt einzudringen.

 

Don Vigilio Covi

 

 

 

1. VATER

 

1. A

 

Die Jünger Jesu beten wie alle guten Juden, die dreimal am Tag innehalten, um Stellen des Wortes Gottes, besonders die Psalmen, zu rezitieren.

Trotzdem fühlen sie, daß Jesus, ihr Rabbi, eine neue Art hat, das Gebet zu leben. Oft sehen sie ihn die Gruppe verlassen und sich an einsame Orte zurückziehen. Sie wissen, daß er es tut, um zu beten. Wenn er mit ihnen betet, merken sie, daß seine Worte nicht mechanische Wiederholungen sind, sondern sie fließen voll Leben von seinen Lippen, als ob sie zum ersten und einzigen Mal gesagt würden.

 

Meister, lehre uns beten!

Lehre uns! Wir wollen von dir lernen!

 

Übrigens unterscheiden sich alle Rabbiner in ihrem Gebet. Jeder Rabbi verwendet bestimmte Gebetsregeln für seine Jünger, die sich von denen anderer unterscheiden. Auch die Jünger Jesu wollen sich von anderen Gruppierungen unterscheiden, sie wollen „jemand« sein.

Welches kann das Gebet sein, das sie zur gleichen Gruppe gehörend ausweist und das sie zur gleichen Zeit von allen anderen Gruppen unterscheidet?

Die Frage der Jünger Jesu ist schön, wenn auch gefährlich.

Jesus hat wirklich eine einzigartige, neue und wahre Art zu beten; aber der Grund, warum sie die Jünger kennenlernen wollen, könnte aus dem Vergleich mit den Menschen, aus Stolz, aus einem Geist der Absonderung entspringen. Sie begründen ihre Frage nämlich so: „Denn auch Johannes hat seine Jünger beten gelehrt.«

[Lk 11,1]

Sie möchten eine abgesonderte Gruppe sein, erkennbar an Taten und Formeln, die nichts kosten! Sie kennen noch nicht ihren Lehrer, der sich von anderen Lehrern dadurch unterscheidet, daß er sich hingibt, ja sich hingibt bis zum Tod!

Jesus beantwortet die Frage seiner Jünger. Mit viel Wohlwollen nimmt er ihre Aufforderung an, und er „diktiert« ein Gebet, das nicht gemacht ist, um sich zu unterscheiden und sich erkennbar zu machen. Sie werden bald merken, daß dies kein Gebet ist, das dem geistlichen Stolz und der Trennung Raum gibt; es ist hingegen ein Gebet, welches das Herz des Betenden umwandelt, ein Gebet, das den Menschen vor Gott stellt als Glied eines Leibes; es stellt die vereinten Jünger vor den Vater als Brüder im Bewußtsein, daß sie der ganzen Welt dienen.

Nicht eine besondere Art zu beten wird sie als Jünger Jesu auszeichnen, sondern ihr Leben: „Daran werden alle erkennen, daß ihr meine Jünger seid, daß ihr einander liebt.« [Joh 13,35]

Ihr Gebet wird also die innere Annahme einer Haltung sein, die sie „praktisch« zu Brüdern macht. Wenn sie so beten, werden die Jünger Jesu „eins« mit ihm, sie werden Gabe, Opfer. Wenn sie wie Jesus beten, wird ihr Leben „eins« mit dem seinen werden.

Die Jünger Jesu werden imstande sein, Brüder zu werden, füreinander zu sterben, die Lasten der anderen zu tragen, ohne persönliche Interessen zu leben, ohne Ambitionen, ohne Idole!

Das Gebet Jesu ist nicht ein Moment, der sich von anderen Momenten unterscheidet, es drückt hingegen den wahren Sinn seines ganzen Leben aus, und das ist die Beziehung zum Vater, die es gleichzeitig nährt.

Von Jesus beten lernen, heißt nicht, lernen etwas zu „tun« oder etwas zu „sagen«, sondern lernen, in einer ständigen, festen und treuen Beziehung mit dem Vater zu leben - und das verwandelt das ganze Leben!

 

VATER,

erbarme dich unser;

wir möchten zu dir mit dem Herzen deines Sohnes beten!

Wir danken dir, daß du ihn uns gegeben hast

als Lehrer unserer Beziehung zu Dir.

 

 

1. B

 

„Wenn ihr betet, sagt: Vater...«

Jesus beginnt seine Lehre, indem er den Seinen zeigt, daß ihr Gebet anders ist, als jenes der Pharisäer und der Heiden, nicht weil die Worte anders sind (auch jene sind anders!), sondern aus folgenden Gründen: anders ist das Herz, das betet, anders sind die Wünsche, anders die Lebensperspektiven, anders ist die Kenntnis Gottes und die Selbstkenntnis, anders sind die Interessen, welche die Gefühle und Gedanken bewegen.

Das Gebet der Pharisäer ist erfüllt von Ehrgeiz und Stolz. Sie sind zufrieden mit sich selbst, mit ihrem Gebet, mit ihrem Tun. Ihr Gebet wird verrichtet und gelebt, um der Wertschätzung der Menschen Willen. Die Pharisäer glauben, die besten unter den Menschen zu sein, nicht zu sündigen, das Gesetz zu befolgen, und daher die Wertschätzung Gottes zu verdienen! Sie meinen, da sie gesetzestreu sind, schon im Besitz des Himmelreichs zu sein. Sie meinen, kein Erbarmen zu brauchen, da sie keine Sünder sind, wie die anderen!

Ihr Gebet ist also von dieser Art des Denkens durchdrungen. Inwiefern?

Sie brauchen auf Gott nicht zu hören, denn sie wissen schon alles. Sie brauchen nicht um Nachsicht und Vergebung zu bitten, denn sie sind strenggläubig. Sie stellen sich nicht vor Ihn zusammen mit anderen, um nicht unrein zu werden wie sie.

Tut nichts und betet nicht wie sie!

Jesus empfiehlt seinen Jüngern nicht so zu beten, denn dies ist kein Gebet. Diese Art zu beten begegnet nicht Gott, der Liebe ist.

Dieses Beten ist eine Instrumentalisierung der Beziehung zu Gott, um vor den Menschen schöne Figur zu machen. [Mt 6,5]

Die Jünger Jesu sollen auch nicht das Gebet der Heiden zum Vorbild nehmen. Was sie auch beten und wie viele Worte sie beim Beten verwenden, die Heiden sollen die Christen nicht neidisch machen. Ja, die Heiden beten und wie! Aber schlußendlich ist ihr Gebet verschwendete Zeit und Energie. „Verwendet nicht viele Worte, wie die Heiden!« Jesus ist so klar und deutlich. Wieso?

Es ist einfach. Die Heiden suchen nicht „das Angesicht Gottes« [Ps 27,8], sie versuchen nur etwas von ihm zu erhalten. Sie lieben Gott nicht, sie interessiert nur „etwas«! Sie gebrauchen viele Worte [Mt 6,7], denn sie wollen gehört und erhört werden. Sie glauben zu wissen, was ihrem Leben, ihrem Glück fehlt, und sie tun alles, um es von jenem „Gott« zu erlangen, der nach ihnen alles kann! Indem sie bitten, versuchen sie ihn zu überzeugen, einzugreifen. Wenn die Worte nicht genügen, um ihn gütig zu stimmen, bieten sie ihm sogar Opfer an.

Der Prophet Elias sprach so zu den heidnischen Propheten des Gottes Baal: „Ruft lauter, denn sicher ist er ein Gott. Er könnte gedankenversunken oder verreist sein. Vielleicht schläft er und wacht dann auf.« [1 Kön 18,27]

Auch die Philosophen des Altertums, seien es die Stoiker oder Epikuräer, sind zum Schluß gekommen, daß Beten unnütz ist. Und sie haben nicht Unrecht!

Ein so verstandenes Gebet ist umsonst, es hinterläßt keine Spur im Leben, es verbessert die Existenz nicht.

Indem der Egoist so betet, bleibt er ein Egoist. Der Gewalttätige und der Überhebliche bleiben mit diesem Gebet Unterdrücker. Der Dieb und der Unreine bleiben dieselben. Der Geizige läuft sogar Gefahr, geiziger zu werden.

Das Gebet des Heiden beinhaltet ein bestimmtes Vertrauen in Gott, aber es handelt sich um ein eigennütziges Vertrauen. Das Herz des Betenden bleibt verschlossen, auf sich und seine Interessen bezogen. Der Heide, der betet, um etwas von Gott zu erlangen, hält nicht inne, um zu verstehen, ob Gott etwas zu fragen hat: er hört nicht zu! Und er hält auch nicht inne, um dem Blick Gottes zu begegnen, um sich am Licht seines Angesichts zu erfreuen.

Es ist klar, daß Jesus uns ein ganz anderes Gebet anbietet!

 

Herr Jesus, lehre mich beten! Schenke mir ein Gebet, das ins Herz des Vaters eindringt, der immer liebt!

Vater, ich liebe dich, ich höre auf dich! Rede zu meinem Herzen, denn ich will dir ähnlich sein!

 

 

1. C

 

Jesus will, daß seine Jünger während des Gebetes frei von jeder Sorge sind. Er weiß, daß die Sorgen verhindern, einer Person in ihrem Innersten zu begegnen, denn sie blockieren Herz und Geist. Die Sorgen, auch die einfachsten und unmittelbarsten, die wir haben können, hindern uns, das Angesicht Gottes zu „schauen«, ihm zu begegnen, ihn ganz zu lieben.

Bevor Jesus uns das Gebet lehrt, fordert er uns auf, die Sorgen – oder besser den „Sorgengeist« - zu entfernen. Der Gott, vor den wir uns im Gebet stellen, ist ein Vater!

Er weiß, was wir nötig haben. Er weiß um all unsere Bedürfnisse, denn er liebt uns!

Ich kann deshalb in meinem Herzen die Freude der Begegnung mit ihm sprudeln lassen. Ich interessiere mich für ihn. Er kümmert sich um mich.

Deswegen schalte ich mein „Ich« vom Gebet aus, sonst öffnen sich die Türen meines Herzens nicht, wenn Er kommt.

„Euer Vater weiß, wessen ihr bedürft, noch bevor ihr ihn darum bittet.«

Ich brauche also nicht an meine Bedürfnisse zu denken!

Gerade weil ich weiß, daß Gott mein Vater ist, sorge ich mich nicht; so wird mein Gebet ganz neu. Ich kann mich auf die Betrachtung und das Hinhören verlegen, und ich werde es mit der vollen inneren Freiheit tun. Ich werde nicht „besorgt« sein, daß mir aus meiner Begegnung mit Gott ein Vorteil entsteht, oder daß ich etwas Neues erlebe, daß mein Schatz an Geld, Ideen, Macht, Fähigkeiten, an menschlicher Wertschätzung wächst.

Wenn mein „Ich« frei von sich selbst ist, kann es sich verschenken, lieben, sich an der Schönheit Gottes freuen, auf seine Wünsche hören und sich vorbereiten, sie zu verwirklichen.

Wir haben schon darauf hingewiesen, daß Jesus schon zu Beginn des Gebetes Gott nicht einfach „Gott« nennt (das ist ein allgemeiner Name, den jeder mit anderer Bedeutung gebrauchen kann), sondern „Vater«.

Von den Evangelisten und den Aposteln wissen wir, daß Jesus sogar den aramäischen Ausdruck gebraucht hat, den die Kinder ihren Eltern gegenüber gebrauchten: „((((« „Abba«, so als ob wir heute „Vati« oder „Papi« sagen würden.

Mit diesem Wort fängt das Gebet an, das Jesus auf den Lippen seiner Jünger „blühen« sehen möchte: „Vater, Papi!«

Sich so ausdrücken, heißt Kind werden. [Mt 18,3]

Der Christ, der beten anfängt, macht sich klein. Und er wird zart und süß wie ein Kind.

So macht es Jesus, der sich vom Vater erkannt weiß. Ein Vater kennt den Sohn, noch bevor im Sohn das Selbstbewußtsein entsteht, noch bevor er nach dem Sinn seiner Existenz fragt. Dieser Sinn ist im Geheimnis der Vaterliebe gegeben! Jesus versucht nie, sich selber zu erkennen, denn ihm genügt es, dem Vater zu begegnen, mit ihm als Sohn in Beziehung zu sein.

Wenn sich diese Beziehung entwickelt und zeigt, gibt es Freude am Leben, und alles bekommt eine große und schöne Bedeutung! Wenn der Mensch Gott „Vater« nennt, verwirklicht er sich vollkommen, denn er akzeptiert von Dem geliebt zu werden, der ständig Leben schenkt!

 

Danke, Herr Jesus, daß du mich das wahre Angesicht Gottes erkennen läßt.

Du läßt ihn mir mit Zärtlichkeit als meinen Vater lieben!

Du gibst mir die Sicherheit, geliebt, beschützt, erwartet zu werden.

Ich danke dir.

Und ich danke dir, Papa, daß du wirklich mein Papa bist!

Ich vertraue mich dir an, ich vertraue dir!

Ich komme zu dir durch Jesus, deinen wahren Sohn!

 

 

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